ein text über mich, dich und andere? uns

auf jeden fall ziemlich gedankenvoll und sicher auch nicht ganz zu ende gedacht. aber manches lässt sich nicht zu ende denken oder fertig in worte verpacken.

es gibt so unendlich viele dinge um die wir wissen. aus den nachrichten. aus dem was wir im alltag sehen. in den augen eines gegenüber. von dem wir hören. vielleicht auch ungewollt in einem gespräch neben uns in der bahn. annahmen. aus dem geschichtsunterricht in die realität übertragen in ihrer bedeutung für die damalige generation menschen.

dinge die angst machen können. unbegreiflich sein. nur schwer zu erfassen als real geschehend, nebenan, kilometerweit entfernt.

wir wissen von kriegen.. menschen die im meer ertrinken auf dem weg in ein erhofftes besseres, sicheres leben. ungesehene kinder die jeden tag und jede nacht gewalt erleben wie wir sie selbst erfahren haben. umweltreaktionen die katastrophal für die betroffenen menschen und regionen sind. und dennoch immer mehr aufzeigen wie wir die welt aufbrauchen. krankheiten die wie seit eineinhalb jahren den alltag von menschen auf der ganzen welt beeinflussen. oder in unserem wissen existieren aber im stillen menschen sterben lassen die ihren freund*innen schmerzlich fehlen aber für andere unbekannte bleiben. krankheiten die nicht uns betreffen was uns hilft ihre bedrohlichkeit in grenzen zu halten. so vieles was jedes leben beeinflusst, verändert, enden lässt auf eine ungewollte, manchmal von menschen verursachte weise, ein andermal durch medizinische erklärbare auslöser.

allein wäre jeder mensch nichts von alledem gewachsen. wir erfahren gerade sehr viel support, zuwendung, offenheit und unterstützung. sehen verletzungen und ängste anderer. hören worte die uns einladen, gemeinsam damit zu sein.

es gibt diesen satz, das es ein ganzes dorf bräuchte um ein kind aufzuziehen. vielleicht ist es auch eine art dorf die hilft mit krankheiten wie unserer umzugehen und darin zu wachsen, manchmal auch auszuhalten.

manchmal kann man nicht viel tun. aber manchmal ist es ein lächeln, wenige worte, sich als gegenüber erkennbar zeigen. das so viel sein kann.

wenn wir uns etwas wünschen können, dann dass was wir gerade erfahren an zugewandheit, vorsicht vor unserer verletzbarkeit, achtung unseren ängsten und gefühlen gegenüber _ übertragbar wäre auf noch weniger begreifbare lebenserfahrungen wie gewalt und flucht aus unterschiedlichsten lebenserfahrungen. vielleicht sollten wir einfach immer voneinander annehmen das wir erfahrungen haben die uns als mensch betreffen, verletzen, zurücklassen, verlust erleiden, zukunft verunsichern, angst machen und schon deswegen einander anlächeln und im gegenüber das eigene mensch sein vermuten lassen.

nebenwirkungen

wir haben jetzt einige tage damit gekämpft und fühlen uns auch noch nicht „fertig„ damit. aber neben allen nebenwirkungen gibt es eine wirkung der chemo-therapie: einen körperlichen heilungsprozess möglich machen. wieviel mehr wiegt das nebenwirkungen auf? wieviel wichtiger ist das als der verlust von haaren? uns haben menschen um uns das immer wieder gesagt und es hat gedauert bis wir heute nach einer schlaflosen nacht wirklich fühlen, das wir jedes einzelne haar hergeben für ein weiter-gehen auf einem heilungsweg.

sie liegen auf der tischplatte. ich wische sie verstollen vom schreibtisch, während ich hoffe, das mein gegenüber es nicht sieht. corona-konform sitzen wir aber echt weit auseinander, zum glück. ich bringe den arbeitstag hinter mich und fahre langsam genug nach hause um angehupt zu werden. dann stehe ich doch im bad und überlege, wie ich die übrigen haare einigermaßen gleichmäßig von kopf bekomme. shampoo, ein letztes mal für ne ganze weile. aber nö, das funktioniert nicht. irgendwo hatte ich gelesen, das rubbeln hilft. tut‘s auch. meine hände sehen aus, als hätte ich durch feuchtes hundefell gestreichelt.

Und ich muss in den spiegel sehen, weil ich sonst keine ahnung hab, ob noch haare da sind. ich sehe augen die mich aus dem spiegel anstarren. ich sehe weg und taste mich mit den augen nach oben vor. ich muss sofort an frisch geschlüpfte vogelkücken denken. irgendwie kahl mit fusseln dazwischen. ich rubbel noch eine weile und setzte dann die haarschneidemaschiene an.

das ist jetzt vier tage her. nur ein mensch hat bisher unseren kopf ohne haare gesehen. ein fremder, der für eine stunde unser begleiter wurde, als er den frisur-ersatz (perücke) angepasst hat. von dem wir noch nicht wissen, ob und wann wir ihn tragen werden. knapp 500€ euro, 400 davon bezahlt die krankenkasse. er fand unseren kopf schön. aber er hat uns auch vorher nie mit haaren gesehen. aber er fand uns schön, nicht abschreckend.

heute morgen, als das erste tageslicht durch die vorhänge die konturen des zimmers sichtbar macht, in dem ich seid stunden schlaflos liege: ich drehe mich herum und vermisse kurz, dass mir dabei die haare im gesicht kleben bleiben, streiche dennoch mit einer unwirschen geste übers gesicht, fahre zum x-ten mal mit der hand über den kopf. spüre die weiche haut. und das rauhe stacheln der letzten kurzen haare.

wieviel identität machen haare aus? wieviel macht es uns aus, das da jetzt erstmal keine mehr sind? wir mögen den blick in den spiegel nicht, fanden schon immer schwierig das spiegelbildgegenüber mit dem selbstempfinden von außenkonturen, sichtbarem und innerem empfinden in einklang zu bringen. wie oft haben wir versucht auf alten fotos uns selbst zu erkennen. und auf neuen das zu finden, was von uns im heutigen alltag selten außen zu sehen ist. und jetzt ist da ein neues spiegelbild.